Der Mensch ist keine Maschine: Gefühle steuern viele unserer Handlungen. Allerdings hat auch die Vernunft ein Wörtchen mitzureden. Wer komplexe Entscheidungen treffen will, sollte sich auf sein intuitives Erfahrungswissen verlassen.

„Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“, schrieb der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662). Und tatsächlich: Viele Entscheidungen, die der Mensch trifft, lassen sich mit Vernunft weder erklären noch verstehen − meist nicht einmal von demjenigen, der sie getroffen hat. Hat der Kopf entschieden, der Bauch – oder doch etwas ganz anderes?

Die Vernunft sitzt im Stirnlappen

Wenn ein Mensch rational über ein Problem nachdenkt, Vor- und Nachteile abwägt oder seine Zukunft plant, dann benutzt er dafür die vordere Stirnhirnrinde, den präfrontalen Cortex. Dieses Gehirnareal ist mit dem limbischen System, dem Sitz der Gefühle, verschaltet und kann Emotionen unter Kontrolle halten – wenn das gerade vernünftig ist. Das wirtschaftswissenschaftliche Modell des Homo oeconomicus ist von der Vorstellung geprägt, dass jeder Konsument rein rational Kosten und Nutzen seiner Entscheidungen durchdenkt und nüchtern versucht, seinen Profit zu maximieren. Ist der Mensch also ein rein frontalhirngesteuertes Vernunftwesen?

Genau dieses Modell ist inzwischen überholt: Die Wirtschaftswissenschaftler haben den Einfluss des präfrontalen Cortex schlicht überbewertet. Kein Mensch handelt rein rational. Der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin drückt es so aus: „Menschen treffen Entscheidungen, – und jetzt sage ich etwas Radikales, gerade für uns Ökonomen – meistens, ohne Nutzen und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.“

Wer im Affekt seinem Chef entgegen schmettert: „Ich kündige!“, hat sich zum Beispiel von seinen starken Gefühlen übermannen lassen. Diese kommen tatsächlich wie es umgangssprachlich heißt teilweise aus dem Bauch (siehe Info-Box). Allerdings kreiert nicht der Bauch, sondern das limbische System im Gehirn den Gefühlszustand. Dabei werden aber die Signale aus dem Körper mit dem Situationskontext abgestimmt und zu einem Gefühlseindruck konstruiert.

Angst vor Verlust

Ein Kerngebiet des limbischen Systems, die Amygdala, feuert vor allem, wenn Angst im Spiel ist, etwa wenn die Gefahr besteht, etwas zu verlieren. In einer Studie blickten Benedetto De Martino und seine Kollegen vom University College London mit einem Magnetresonanztomografen in das Gehirn von Probanden, denen man 50 britische Pfund in Aussicht stellte und die Wahl gab: Stiegen sie zu Beginn des Spiels aus, bekamen sie 20 Pfund; spielten sie weiter, konnten sie entweder die gesamten 50 Pfund gewinnen oder leer ausgehen. Das Interessante: Wie die Frage formuliert war, hatte entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung der Probanden. 62 Prozent wählten das Risiko, wenn es hieß: „Sie verlieren 30 Pfund, wenn sie nicht spielen“. Bei der Ansage: „Sie dürfen 20 Pfund behalten“, riskierten hingegen nur 43 Prozent ihr Glück. Wissenschaftler sprechen vom Framing-Effekt: Ist die gleiche Tatsache unterschiedlich formuliert, entscheiden sich Menschen oft anders. Der Grund: Bei der Androhung, 30 Pfund zu verlieren, wird die Amygdala aktiviert und motiviert dazu, das Risiko einzugehen – schließlich verliert man ansonsten etwas. Die Amygdala feuert aber nicht, wenn es heißt, 20 Pfund sicher einstreichen zu können – obwohl das Ergebnis für den Geldbeutel ja genau dasselbe ist.

Neben der Amygdala ist auch das Belohnungssystem im Gehirn ein Frühindikator für Entscheidungen. Dazu gehört unter anderem der Nucleus accumbens. Brian Knutson von der Stanford University bot seinen Probanden im Tomografen Pralinen zum tatsächlichen Kauf an. Griffen die Probanden zu, regte sich der Nucleus accumbens, und zwar schon, bevor es den Probanden überhaupt bewusst war, dass sie einwilligen würden. War die Leckerei zu teuer, feuerte hingegen die Inselrinde und legte so offensichtlich ihr Veto ein.
Gefühle sind oft stärker als die Vernunft

Gefühle geben auch dann den Ton an, wenn wir etwas als unfair empfinden. Das entdeckte ein Team um Alan Sanfey, heute an der University Arizona, im Jahr 2003. Ein Spieler erhielt eine Geldsumme und musste sich entscheiden, wie viel er davon seinem Mitspieler abgab. Nur, wenn der Mitspieler auch akzeptierte, durften beide das Geld behalten. Würde der Mensch rein rational mit dem präfrontalen Cortex abwägen, würde der Mitspieler immer akzeptieren, denn dann bekommt er schließlich Geld; lehnt er ab, erhält er überhaupt nichts.

Unfaire Angebote schlugen jedoch viele Probanden entrüstet aus. Dabei regten sich Inselrinde, Gyrus cinguli und der präfrontale Cortex im Gehirn. Die Forscher interpretierten das als emotionalen Konflikt: Der präfrontale Cortex feuerte, um das negative Gefühl aus den beiden anderen Hirnarealen zu überwinden und den Probanden dazu zu bewegen, das unfaire Angebot dennoch anzunehmen. Der präfrontale Cortex versucht also, die Gefühle zu kontrollieren und zu überstimmen, aber es klappt nicht immer.

Der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen drückt es noch radikaler aus: Nicht die Vernunft lenke primär unser Handeln, sondern Affekte und Emotionen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Unlust. Unterschwellige Lust- und Unlustgefühle könnten viele unserer Entscheidungen beeinflussen, sagt Gerhard Roth. Das geschehe oft unbewusst. „Und da passiert es, dass wir auf die Frage: ‘Warum hast du dich gerade so entschieden?’, irgendetwas zusammenreimen, weil wir zu den unbewussten Motiven und Impulsen schlicht keinen Zugang haben.“

Das heißt aber nicht, dass der Verstand nicht gegensteuern könne, sagt Roth. Dies geschehe allerdings eher über Umwege: Der Verstand wäre nur dadurch in der Lage, die Handlungsplanung zu beeinflussen, indem er entgegengesetzte Gefühle einkoppelt. Wenn man etwa morgens am Frühstückstisch Appetit auf einen Schokoaufstrich hat, obwohl man eigentlich abnehmen wollte, kann die Vernunft dafür sorgen, das fettige Essen stehen zu lassen. Laut Gerhard Roth gibt es damit keine rationalen Entscheidungen, nur rationale Abwägungen.

Vertraue der Intuition

Doch es seien nicht immer Gefühle, die uns lenken, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer: Hinter vielen „Bauchentscheidungen“ steckten oft simple Faustregeln und Erfahrungswerte, die das Leben stark vereinfachen. Als Beispiel nennt er den Versuch, einen Ball zu fangen: Kein Mensch werde den Aufprallpunkt des Balls anhand von Flugbahn, Luftwiderstand, Windrichtung und so weiter berechnen – stattdessen fixiere er den Ball mit den Augen und versuche, den Blickwinkel während des Laufens konstant zu halten. Das bringe ihn automatisch dorthin, wo der Ball herunterkommt. Doch auch der Kauf der immer gleichen Katzenfuttermarke oder den Rat enger Freunde zu befolgen, gehe auf solches Erfahrungswissen zurück.

Dieses Erfahrungswissen ist uns oft nicht wirklich bewusst, „da es quasi in einem anderen Datenformat abgespeichert ist“, wie Gerhard Roth sagt. Bei Entscheidungsfindungen kann es aber aktiviert werden, am besten im Schlaf, oder zumindest durch vorübergehendes „Abschalten“: „Dann werden alle früheren Erfahrungen abgescannt und sie bekommen eine Art Durchschnittsbeurteilung. Das äußert sich dann als laues Gefühl: Beispielsweise ‚Ja, das sollte ich machen“, sagt Roth. Gerade bei komplexen Entscheidungen scheint diese Form der Intuition der rationalen Abwägung überlegen zu sein (Siehe Info-Box).

Die Intuition hat vermutlich schon so manchem Fahrradfahrer vor dem Sturz bewahrt: Wenn jemand mit dem Fahrrad plötzlich ins Rutschen gerät, entscheidet er sich aufgrund seines Erfahrungswissens intuitiv dazu, automatisch in die Gegenrichtung zu lenken – ohne die physikalischen Gesetze zu kennen oder die Folgen zu durchdenken. Fragt man Personen jedoch vorab, was sie in einer solchen Situation tun würden, geben sie meist völlig falsche Antworten, deren Umsetzung unweigerlich zum Sturz führen würde.

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